Musikalische Schaffensprozesse 2.0 – Inkorporation audiovisueller Medien der populären Musik in Methoden der digitalen Edition

Die Auswertung der Gruppendiskussion hatte das Ziel, einen Einblick in die Wahrnehmung des musikalischen Schaffensprozesses einer musikalischen Gruppe zu erhalten. Als erster Schritt nach der Aufzeichnung am 23. November 2019 wurde das Gespräch transkribiert. Gemäß Reichertz’ Feststellung (2016: 279), »Kodieren führt also nicht zu Interpretationen, aber Kodieren ist eine Praktik, die hilfreich ist, zusammen mit anderen Praktiken Interpretationen zustande zu bringen«, wurde für die inhaltsanalytisch ausgerichtete Auswertung ein Kodierungsleitfaden entwickelt. Dieser abstrahiert quasi die einzelnen Fragen des Leitfadens der Gruppendiskussion.

  1. Ablauf des musikalischen Schaffensprozesses
    1. Rahmenbedingungen
    2. Gitarre
    3. Experimentieren
    4. Text
    5. Emotionen
  2. Zusammenarbeit der Gruppenmitglieder
    1. Gewichtung
    2. Leader
    3. Emotionen
  3. Umstände von Materialveränderungen
    1. Aufnahme
    2. musikalische Struktur
    3. individuelle Aspekte
  4. Umstände der Fertigstellung von Songs
  5. Arten von Gedächtnisstützen
    1. Aufnahmen
    2. Notizen
  6. Rolle äußerer Faktoren beim musikalischen Schaffensprozess
    1. Equipment
    2. Hörerlebnis
  7. Rolle persönlicher Themen beim musikalischen Schaffensprozess
    1. Emotionen
    2. persönliche Verbesserung
  8. Einfluss der Musik auf Entstehung des Textes

Da es sich vom Charakter des Projekts her um eine zeitlich sehr begrenzte Vorstudie für eine größere Studie handelt, könnte auch die Auswertung von Modul 1 noch weiter ausgebaut werden. So wurde die Kodierung händisch in der Transkription vorgenommen, zur besseren Visualisierung und Transparenz der Untersuchung wäre vermutlich das Verknüpfen von Audioaufnahme und Transkription in MAXQDA in zukünftigen Studien ähnlich hilfreich wie in Modul 2.

Beispiel für inhaltliche Auswertung

Als Beispiel für die inhaltliche Auswertung der Gruppendiskussion sei der erste Komplex rund um den Ablauf des musikalischen Schaffens in der Band Close to the Distance herausgegriffen. Als Rahmenbedingungen beschreiben die einzelnen Bandmitglieder unterschiedliche Situationen (siehe dazu das Transkript), die vom initiierten Neukomponieren in der Gruppe – »lasst mal was Neues machen« (Z. 9) – bis zu unabhängigen individuellen Momenten reichen. Während Bassist Jonas vom eigenen heimischen Komponieren berichtet, das das Ersinnen mehrerer musikalischer Parameter und auch das Moment des Fixierens umfasst – »[a]lso was ich oft mache, ist schon zu Hause Songwriting und schreib mir da Tabulaturen in ein Programm oder nehme schon mal was auf und haue ein Schlagzeug drunter und dann spiel ich das hier ab« (Z. 11–13) –, bringen er sowie Gitarrist 1 Justus ebenso schlichte horizontale Verläufe in die Gruppensituation ein: »[I]ch hatte noch ein Riff rumliegen von zu Hause« (Z. 21). Auch im späteren Zusammenhang mit dem Entstehen von Texten greift Gitarrist 1 dies noch einmal auf (Z. 347f.), »meistens ist es wirklich so, dass ich einfach anfange zu schreiben und das ist dann da und das passt dann irgendwie vom Gefühl her auf das Riff, das ich vorher im Kopf hatte.«

Im Laufe des Gesprächs einigen sich die Bandmitglieder darauf, dass ein Song meist »mit den Gitarren« (Z. 67) beginne, sprechen zuvor aber über zwei Ausnahmen, in denen die Entwicklung vom Schlagzeug ausging (Taiconaut, Z. 53f.; Left alone, Z. 61f.). Zu letzterem, bis Z. 321 als Song Kaffeepause bezeichnet, beschreibt Gitarrist 2 Jens in Z. 61f., »da hattest du [gemeint ist der Schlagzeuger Manuel; Anm. d. Autorin] die Melodie erst im Kopf. Ich habe die dann erst // mit Chords besetzt // und dann in Single-Notes umgesetzt.« Daraufhin bestätigt Schlagzeuger Manuel (Z. 64): »Ja, ich habe mal was getappt und dir geschickt.« Dieser Austausch zeigt neben den ablaufbezogenen Einblicken auch die Notwendigkeit, Äußerungen generell aus dem Gesprächskontext heraus zu verstehen – ist doch mit dem eigentlich auf eine horizontale Tonhöhen- und Rhythmuskombination festgelegten Begriff ›Melodie‹ hier wohl eher eine spezielle rhythmische Abfolge zu verstehen.

Der Song Left alone dient im letzten Drittel erneut als Beispiel für einen anderen Aspekt des kompositorischen Vorgehens der Band, und zwar für die Verbindung von Musik und Text. Die beiden Sänger der Band schildern einmütig, dass das Verfassen der Texte für sie vor allem autobiographische Hintergründe habe und sie damit persönliche Emotionen gleichsam nach außen transportieren würden (vgl. Z. 243–256). Dies scheint jedoch für die anderen drei Bandmitglieder offenbar wenig Bedeutung zu haben: »[D]ie Texte blende ich aus«, sagt Bassist Jonas in Z. 302 und wird darin von Gitarrist 2 Jens in Z. 304 bekräftigt, »[d]a reagier ich auch viel mehr auf Noten.« Schlagzeuger Manuel geht daraufhin erneut auf Left alone ein (Z. 324–326): »[I]m Entstehungsprozess von Kaffeepause habe ich euch zwei immer gesagt: // ›Schreibt doch mal was Positives‹ // ›macht mal was Positives‹ // und am Ende // wird es irgendwie der negativste // Song von allen.« Sänger Simon, der kurz zuvor noch selbst erwidert hatte, von der Melodie genau jenes Songs gute Laune zu bekommen (Z. 308), konstatiert daraufhin (Z. 330f.): »Und dann habe ich mich hingesetzt und dachte: ›okay, was Positives‹, geht aber einfach nicht.«

Fazit

Anhand dieses kurzen Auszugs aus der Gruppendiskussion können verschiedene Erkenntnisse über die Wahrnehmung des gruppenbezogenen musikalischen Schaffens gewonnen werden. So schildern die Bandmitglieder ihr übliches Vorgehen als mit einem Gitarrenbestandteil beginnend – sie beschreiben aber die Ausnahmen sehr viel genauer als die von ihnen konstatierte Normalität. Anknüpfend an übliche Schaffensbeschreibungen finden sich dabei auch Äußerungen, die klassischerweise als ›Illumination‹ bezeichnet werden würden, also als »das urplötzliche Auftauchen der Idee bzw. des intuitiv wirkenden Einfalls, der als Erkenntnissprung erscheint und zur Problemlösung beiträgt« (Bullerjahn, 2004: 138). Ob ein Übertragen dieser Konzepte allerdings wirklich hilfreich ist, müsste anschließend an [Acquavella-]Rauch (2010: 24–31) an anderer Stelle diskutiert werden. Bemerkenswert ist, dass die Gruppendiskussion deutlich macht, wie das Komponieren der Musik und das Erdenken der Texte als nahezu unabhängig voneinander angesehen werden. Für die reinen Instrumentalisten der Band erscheint der Anteil der Texte sogar als wenig bedeutend für den kompositorischen Prozess. Das Entstehen von Songs wird als zweigeteilt wahrgenommen, was wiederum dazu einlädt, erneut an die Ansätze Bahles (1936) anzuknüpfen. Anstatt jedoch von einem Primat des Textes auszugehen wie dieser, zeigt sich vielmehr, wie horizontale musikalische Linien als erste Bestandteile des kompositorischen Prozesses dargestellt werden.