Musikalische Schaffensprozesse 2.0 – Ein Überblick

Das Projekt »Musikalische Schaffensprozesse 2.0 – Inkorporation audiovisueller Medien der populären Musik in Methoden der digitalen Edition« hatte zum Ziel, bisher nicht erfassbare Dimensionen musikalischer Entstehungsprozesse dokumentierbar und untersuchbar zu machen. Sämtliche bisherige Ansätze der Musikwissenschaft setzen voraus, dass Musik und Klang schriftlich notiert werden, was mit Hilfe des Projekts entscheidend um weitere mediale Dimensionen des Komponierens erweitert werden soll. Gleiches gilt für die (digitale) Musikedition, die eine etablierte Form der Grundlagenforschung darstellt und als solche auf weiteres Potenzial für die Erforschbarkeit musikalischer Schaffensprozesse überprüft werden sollte.

Der strukturelle Aufbau des Projekts gliederte sich entsprechend den unterschiedlichen methodischen Ansätze in drei Module. Ausgehend von einer im Rahmen einer Untersuchung zu Arnold Schönbergs Arbeitsweise erstmals entwickelten Idee ([Acquavella-]Rauch,2010), zusätzlich zu musikphilologischen Methoden auch ethnographisches Material auszuwerten, um über verschiedene Perspektiven Erkenntnisse zum musikalischen Schaffen zu gewinnen, wurde in diesem Projekt der methodische Zugang zur musikalischen Werkstattforschung bezogen auf drei Ansätze erweitert: Erstens sollten Einblicke in die Selbstwahrnehmung beim Komponieren gewonnen werden, während zweitens der Schaffensprozess direkt, also bereits ›beim Geschehen‹, erfasst werden sollte. Damit wurde die Untersuchung des musikalischen Schaffens gleichsam doppelt aus den Grenzen der Schriftlichkeit herausgehoben, was eine Erweiterung und Veränderung der bisher dafür zur Verfügung stehenden Methoden – aber nicht notwendiger Weise der Fragen – nach sich zog. Ähnlich wie in anderen Formen der Forschung zu kreativen Prozessen (Clarke & Doffman, 2017; Sawyer, 2003) wurden Musiker*innen beim Komponieren von Musik eines nahezu nie schriftlich fixierten Musikgenres begleitet. Das Entstehen von Songs der Melodic Hardcore Band Close to the Distance wurde ethnographisch mittels Annotation von Videomitschnitten dokumentiert, ihre Selbstwahrnehmung der Vorgänge über eine mittels Leitfaden strukturierte Gruppendiskussion erfasst. Damit widmet sich das Projekt einem weiteren Forschungsdesiderat: der schaffensmusikalischen Untersuchung von sogenannter populärer Musik.

Ziel des Projekts war es ferner, aktuelle Werkzeuge der digitalen Musikedition gleichsam ›auf den Prüfstand‹ zu stellen (Modul 3). Ausgetestet werden sollte, inwieweit eine Schnittstelle zur Inkorporation audiovisueller Quellen in die musikeditorische Standardanwendung Edirom für das ethnographisch erhobene Material sowie notwendige Erweiterungen des Editionsformats der Music Encoding Initiative (MEI) als gleichsam etablierter methodischer Zugang zu musikalischen Schaffensprozessen nach wie vor sinnvolle Erkenntnisse liefern können.

Das Projekt war mit einer überschaubaren Laufzeit von nur acht Monaten geplant (Juni 2019 bis Januar 2020) und sollte in mehrerer Hinsicht als Vorstudie für nachfolgende größere Untersuchungen dienen (vgl. Module). Die Arbeit wurde dankenswerter Weise ermöglicht durch eine Anschubfinanzierung der inneruniversitären Forschungsförderung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Eine wesentliche Rolle spielte auch die Kooperation mit der Melodic Hardcore Band Close to the Distance, ohne deren Unterstützung das Projekt kaum hätte stattfinden können.