Musikalische Schaffensprozesse 2.0 – Ergebnisse
Das Projekt »Musikalische Schaffensprozesse 2.0 – Inkorporation audiovisueller Medien der populären Musik in Methoden der digitalen Edition« verfolgte die Ziele, mittels neuer methodischer Ansätze bisher nicht erfassbare Dimensionen musikalischer Entstehungsprozesse dokumentierbar und untersuchbar zu machen sowie damit verbunden die Möglichkeiten der (digitale) Musikedition zu überprüfen. Die in drei Modulen aufgebaute Untersuchung erbrachte als vielleicht wichtigstes Ergebnis, dass mit Hilfe der angewandten, sich von den etablierten Methoden der historischen Musikwissenschaft stark unterscheidenden ethnographischen Ansätze die gleichen Fragestellungen zum musikalischen Schaffensprozess verfolgt werden können, die teils zu ähnlichen und teils zu neuen Erkenntnissen führen. Alle drei Module vereint, dass die Auswertung des erhobenen Materials und der getesteten Ansätze im Rahmen des als Vorstudie mit der geringen Laufzeit von acht Monaten konzipierten Projekts an der Oberfläche verbleiben mussten, wodurch sich ein deutlicher Raum für eine Vielzahl weiterer Untersuchungen bietet. Anhand der durchgeführten Tiefenbohrungen konnte in jedem der drei Module demonstriert werden, in welche Richtung eine Weiterentwickelung und Vertiefung erfolgen sollte. Die im Rahmen des Projekts erstellte Bibliographie, die hier nur in Auszügen präsentiert werden kann, liefert dazu wichtige weitere Voraussetzungen.
Modul 1
Die Herangehensweise einer mittels Leitfaden strukturierten Gruppendiskussion in Modul 1 brachte Einblicke darin, wie die Mitglieder einer Gruppe – die Melodic Hardcore Band Close to the Distance – sich und die jeweils anderen Gruppenmitglieder beim gemeinsamen Entwickeln von Songs wahrnehmen. Die Bandmitglieder schildern das für sie übliche Vorgehen, beschreiben Ausnahmen und integrieren individuelle Erfahrungen und Anteile in die Beschreibung gruppenbezogenen Prozesse. Das Material bietet im Anschluss an die Studie das Potential, inhaltlich anhand des entwickelten Kodierungsleitfadens weitergehend ausgewertet werden. Zudem wird es notwendig sein, die Aussagen zum einen in Relation zu psychologischen Konzepten für Gruppenprozesse sowie zum anderen tiefergehend im Hinblick auf die angesprochenen musikalischen Aspekte zu analysieren, um dieses letztlich mit dem Stand der Forschung der systematischen und historischen Musikwissenschaft sowie der Musikpsychologie abgleichen zu können.
Modul 2
Die exemplarische Analyse der Probenbesuche in Modul 2, die in einer Anschlussstudie sehr viel detailreicher und präziser erfolgen könnte, zeigt, wie mittels der qualitativen Methode der teilnehmenden Beobachtung wesentliche Erkenntnisse aus individuenbezogenen und auf Schriftlichkeit basierenden Studien der historischen Musikwissenschaft auf das musikalische Schaffen in Gruppen übertragen werden können. Neben den inhaltlichen erbrachte die zweiteilige Untersuchung Ergebnisse in sieben weiteren Bereichen – von technischen Fragen zu solchen der Transkription und Annotation bis hin zur Auswertungstiefe. Auch für die Erkenntnisse aus diesem Modul gilt, dass es in einem nächsten Schritt notwendig wäre, das Material auch in anderer Hinsicht auszuwerten und beispielsweise psychologische Gruppenprozesse ebenso mit einzubeziehen wie die Ergebnisse aus Studien zur musikalischen Kreativitätsforschung.
Modul 3
Ziel des dritten Projektmoduls war es, die methodisch neuen Ansätze zur Erfassung schaffensprozessualer Vorgänge daraufhin zu überprüfen, ob sie für eine Einbettung in die erprobten Werkzeuge der digitalen Musikedition geeignet sind. Da bis zum Abschluss der Projektlaufzeit keine Dokumentation der musikeditorischen Standardanwendung Edirom zur Verfügung stand, konnten nur Vorüberlegungen zu einer audiovisuellen Schnittstelle angestellt werden. Gleichermaßen erfolgte lediglich ein erster Entwurf für eine mögliche Erweiterung des Editionsformats MEI für verschiedene Formen der Stimmbenutzung im Hardcore. Ein Workshop mit Dipl.-Informatiker Daniel Röwenstrunk (Edirom-Verbund und ZenMEM Detmold) im Rahmen des Projekts am 15. November 2019 in Mainz bestärkte allerdings die auf Grund der Arbeiten an Modul 1 und Modul 2 entwickelte Vermutung, dass die auf Schriftlichkeit ausgerichteten Zugänge der Musikeditorik der speziellen Art der erhobenen Daten nur sehr eingeschränkt gerecht werden können.
Das Zurverfügungstellen von Daten im Sinne einer Grundlagenforschung, wie sie die (digitale) Musikedition eben ist, sollte vielmehr über eine Webplattform erfolgen, die passgenau auf das erhobene Material entwickelt wird. Daraufhin wurde die ursprüngliche Idee, die Ergebnisse auf einer Website zu präsentieren, ausgebaut. Mit der vorliegenden Webpräsenz https://schaffensprozess-2-0.uni-mainz.de wurde ein erstes Beispiel für die Möglichkeiten dieser anderen Darstellungsform erstellt. In Folgeuntersuchungen werden vor allem Fragen zur online-Integration des annotierten audiovisuellen Materials zu klären sein.