Auswertung Modul 2
Modul 2 war methodisch als zweiteilige teilnehmende Beobachtung angelegt, die mit audiovisuellen Verfahren mitgeschnitten wurde (vgl. Reichertz, Englert 2011: 8). Ziel dieser als Vorstudie angelegten Untersuchung war es, für eine sich anschließende umfangreiche Studie Erkenntnisse zu allen Ebenen des Verfahrens – und nicht nur zum musikalischen Schaffensprozess an sich – zu gewinnen. Es ging also primär darum auszutesten, welche Arten des Einblicks in Prozesse des musikalischen Schaffens in Gruppen mit den einzelnen Elementen dieses neuen, von den herkömmlichen Methoden der historischen Musikwissenschaft abweichenden Ansatzes zu erhalten sind. Die Auswertung der Materialien des ersten und des zweiten Teils der teilnehmenden Beobachtung in Modul 2 hat dabei folgende Ergebnisse hervorbringen können:
1. Technische Möglichkeiten und Notwendigkeiten bei der audiovisuellen Aufzeichnung
Anhand des audiovisuellen Materials des ersten Probenbesuchs konnte festgestellt werden, dass ein verfeinertes Verfahren einzusetzen ist, bei dem neben einem Audio-Video-Kanal eigene Kanäle für die einzelnen Instrumente und Gesangsarten erfasst werden müssen. Das Material des zweiten Probenbesuchs legt nahe, in Zukunft zusätzlich auch die verbalen Kommentare der Beteiligten in eigenen Kanälen mitzuschneiden.
2. Schwierigkeiten bei der Transkription
Bei der Transkription der während der Probe geführten Kommunikation des ersten Probenbesuchs konnten einige kürzere Passagen nicht übertragen werden, da das verwendete Mikrofon der Videokamera nicht alle Beteiligten gleich gut erfasste. Aus technischen Gründen konnte eine erweiterte Mikrophonierung der einzelnen Bandmitglieder für die Erfassung der Sprachanteile beim zweiten Probenbesuch nicht umgesetzt werden. Für weitere Erhebungen sollten allerdings alle Beteiligten über eigene Mikrofone verfügen.
3. Technische Aufbereitung der aufgezeichneten audiovisuellen Rohdaten
Der erste Probenbesuch zeigte die Relevanz eines Markers (hier: simultanes Klatschen) zur späteren Synchronisierung der Audio- und der audiovisuellen Aufnahme der Kamera beim Schnitt. Dies erfolgte beim zweiten Probenbesuch.
4. Festlegen von Annotationskategorien
Das Finden und Festlegen von Annotationskategorien erfolgte in Anlehnung an Pflüger (2013: 106f.). Bezogen auf das Material des ersten Probenbesuchs wurde schnell deutlich, dass zwar Kategorien festgelegt und das Videomaterial auch annotiert werden konnte. Da auf Grund der Qualität allerdings nicht alle Details hörbar waren, erfolgte auch die Kategorienfindung weniger detailliert. Analog zur Verfeinerung der verwendeten Technik wurde für das Material des zweiten Probenbesuchs auch eine Verfeinerung der Annotationskategorien vorgenommen.
5. Dokumentation mittels Annotation in MAXQDA
Als ein generelles Ergebnis der Vorstudie kann festgehalten werden, dass die Annotation in MAXQDA trotz festgelegter Kategorien in unterschiedlicher Tiefe erfolgen kann. Für den ersten Teil von Modul 2 gilt, dass auf Grund der Videoqualität bestimmte Details nur oberflächlich zu hören und zu annotieren waren. Durch die Verfeinerung der verwendeten Technik konnte dies beim zweiten Probenbesuch aufgefangen werden und eine genauere Annotation war möglich.
6. Durchführen der Annotation
Beim Durchführen der Annotation vor allem des Materials des zweiten Probenbesuchs fiel schnell ein weiteres Ergebnis der Vorstudie ins Auge: der hohe Zeitaufwand. Die Annotation oder »Kodierung« (Pflüger, 2013: 108) konnte in diesem Projekt nur bis zu einer gewissen Tiefe durchgeführt werden und erfasst noch nicht das gesamte Potenzial des erhobenen Materials. Hier ist relevant weitere Durchgänge vorzunehmen und gerade die erweiterten Annotationskategorien im Bereich der musikalischen Veränderungen – Struktur oder Form, Rhythmus, Harmonik (vertikale Tonhöhenverteilung), Melodik (horizontale Tonhöhenverteilung) und Text – sehr viel genauer anzulegen. Ein weiteres Desiderat ist das Verschränken der Annotation der rein musikalischen Anteile der Probe mit den gesprochenen. Dazu müsste für den zweiten Probenbesuch ebenfalls eine Transkription der gesprochenen Äußerungen erfolgen, was aus Zeitgründen nicht mehr möglich war.
7. Tiefe der Auswertung
Das Verfahren bietet in mehrerer Hinsicht die Möglichkeit, Prozesse des musikalischen Schaffens in Gruppen in unterschiedlicher Tiefe zu erfassen. Erreicht wurde dies durch die Verfeinerung des technischen Vorgehens sowohl in Bezug auf das Videomaterial, das die Grundlage für die letztliche Auswertung bildete, als auch in Bezug auf die Annotationskategorien, die das Material für die inhaltliche Auswertung vorgruppierten. Zeit stellte sich als weiterer wesentlicher Faktor für die letztliche Tiefe der Methode heraus, was wiederum vielversprechend für das Durchführen einer sich anschließenden Studie ist.
8. Erkenntnisse zu Prozessen des musikalischen Schaffens in Gruppen
Mit Hilfe der teilnehmenden Beobachtung konnte insgesamt rund 137 Minuten umfassendes Videomaterial zusammengestellt werden. Trotz der unterschiedlichen Qualität und der daraus resultierenden Herausforderungen zeigen sich deutlich verschiedene Aspekte, die auch aus dem Vorgehen sogenannter klassischer Komponisten bekannt sind. Am prominentesten mag erscheinen, dass die Mitglieder der Band Close to the Distance ähnlich wie beispielsweise Arnold Schönberg intensiv an bestimmten musikalischen Problemen arbeiteten, es so lange »in seine Details [zerlegte(n)], bis es sich zu [ihrer; Anm. d. Autorin] Zufriedenheit lösen ließ« ([Acquavella-]Rauch, 2010: 304). In Ausschnitt 2 des zweiten Probenbesuchvideos kann ein derartiges Vorgehen verfolgt werden.
Eine bestimmte Passage des Songs mit dem Arbeitstitel Imagination, die mit dem Chorus zusammenhängt, führt immer wieder zu einem Auseinanderfallen der Band, die daraufhin zunächst an verschiedenen strukturellen Elementen arbeitet: Geht es zwischen 0:25:27 und 0:26:14 um die Häufigkeit, mit der bestimmte Patterns vor einem kritischen Einsatz zu spielen sind, woraufhin Gitarrist 1 beim nächsten Spielen der Passage dem zweiten Gitarristen einen Einsatz gibt, so wird dann zwischen 0:28:07 und 0:31:24 der strukturelle Aufbau des Gesangsparts für die Shouts, der ersten Gitarre und der Drums auf den Prüfstand gestellt. In 0:29:56 äußert Gitarrist 1, ob er die Akkordstruktur verändern solle oder ob (ab 0:30:12) ob nicht doch besser eine Generalpause das Problem lösen könnte. Auch die Überlegung, den Einsatz des ›Clean singing‹-Parts vorzuverlegen (ab 0:32:56), führt jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis. Erst nach weiteren rund 30 Minuten des Diskutierens und Probierens verschiedener Möglichkeiten der Passage einigt sich die Band auf den letzten Lösungsansatz, der im Einlegen einer Pause und eines kurzen Bass-Solos besteht (vgl. Probe 2, Ausschnitt 3).
Fazit
Allein die exemplarische Analyse dieses Probeneinblicks, die in einer Anschlussstudie natürlich sehr viel detailreicher und präziser erfolgen müsste, zeigt, wie mittels der qualitativen Methode der teilnehmenden Beobachtung sogar wesentliche Erkenntnisse aus individuenbezogenen Studien der historischen Musikwissenschaft auf das musikalische Schaffen in Gruppen übertragen werden können:
»Es werden also nicht nur mögliche Probleme auf diese Weise erkennbar, sondern es können auch die darauf folgenden Schritte nachvollzogen werden. Dadurch wird die eigentlich verschlossene Gedankenwelt, die den Schaffensprozess umgibt und vorantreibt, zu einem bestimmten Teil erschließbar. Indirekt führen diese partiellen Aspekte zu einem umfassenden Verständnis des Schaffensvorgangs, das wiederum dazu beiträgt, das gesamte Geschehen durchsichtiger werden zu lassen« ([Acquavella-]Rauch, 2010: 304).
Mit Hilfe der in Modul 2 der Vorstudie angewandten Methoden ist es also möglich, das gruppenbezogene Schaffen zu erfassen. In einem nächsten Schritt wäre es nun notwendig, das Material auch in anderer Hinsicht auszuwerten und beispielsweise psychologische Gruppenprozesse ebenso mit einzubeziehen wie die Ergebnisse aus Studien zur musikalischen Kreativitätsforschung.