Zum musikalischen Schaffensprozess
»[S]ince the very earliest intention was to focus upon the ›in the moment‹ process of musical composition: the real-time creative act of making a musical product. Little attention has been paid to this particular form of musical creativity other than directly through biographical and autobiographical narrative and anecdote, or indirectly through analytical and theoretical approaches, […] with notions of creative thinking in the context of musical composition.« (Collins, 2012, S. xix)
Trotz all der Studien, auf die Dave Collins hier anspielt, ist es nach wie vor selten, den Schaffensprozess noch dazu von sogenannter ›nicht-klassischer‹ Musik gleichsam in Echtzeit zu erforschen. Bei der Betrachtung dieser Musik des 21. Jahrhunderts stößt man immer weniger auf schriftlich fixierte Musik und Notation, wohingegen die Nutzung anderer Medien zunimmt. Während der musikalische Schaffensprozess in der historischen Musikwissenschaft vor allem an schriftlich überlieferte Zeugnisse gekoppelt ist und mit den musikphilologischen Methoden der Skizzenforschung erfolgt, ist das Spektrum anderer Zugänge zum musikalischen Schaffen sehr vielseitig, wie zahlreiche Studien zeigen.
Der musikalische Schaffensprozess in der historischen Musikwissenschaft
In der historischen Musikwissenschaft ist Forschung zu musikalischen Schaffensprozessen traditioneller Weise ebenso wie die Musikedition direkt verbunden mit einem jeweils spezifischen neuzeitlichen Künstlerbild und Kunstbegriff (Appel, 2003). Komponieren wird dabei vor allem im Sinne eines Entwerfens und Entwickelns von Musik als Schreibvorgang und gedanklicher Prozess verstanden. Die Verknüpfung von Denken, Schreiben und Skizzieren wiederum qualifiziert das Komponieren als intellektuellen Vorgang.
Während die Erforschung von Skizzen und Fragmenten – insbesondere auch deren Edition – in der Literaturwissenschaft bereits sehr präsent ist und oft entscheidende Aufschlüsse bei philologischen und hermeneutischen Problemstellungen geben kann, gehört die Skizzenforschung zwar erst seit relativ kurzer Zeit zum methodischen Repertoire der historischen Musikwissenschaft (Czolbe, 2014: 8). Eine methodisch reflektierte und philologisch fundierte ›Werkstattforschung‹ zählt allerdings inzwischen zum präferierten methodischen Weg, um der Gedankenwelt einer/s Komponist*in näher zu kommen, ([Acquavella-]Rauch 2010 und 2016; Appel, 2010; Danuser & Katzenberger 1993; Jestremski, 2002; Kinderman, 1991; Konrad, 1992; Band »Phänomen Skizze« von Die Tonkunst 9/2015). Editorisch wird das weite Feld des musikalischen Schaffensprozesses neben Erwähnungen in Kritischen Berichten lediglich in einem großen Vorhaben erforscht: Beethovens Werkstatt. Genetische Textkritik und Digitale Musikedition.
Andere Zugänge zum musikalischen Schaffensprozess
Andere Zugänge zum musikalischen Schaffen finden sich beispielsweise in Überlegungen zum Kontext von Genieästhetik, Inspiration und Musikästhetik (Danuser ,1990; Braun, 1970; Oh, 2013) sowie in anderen Bereichen der Musikwissenschaft. Wie beispielsweise Nicolas Donin beschreibt (Donin, 2012), gibt es in der musikpsychologischen Forschung zahlreiche empirische Ansätze, mit denen musikalisch-kreative Arbeit untersucht wird. Auffällig ist dabei, dass diese ebenso wie in der Musikpädagogik häufig auf Fremd- oder Expertenurteilen oder der qualitativen Beobachtung des Schaffensprozesses basieren (z.B. Odena & Welch, 2012; Rusinek, 2012), ohne die eigene Interpretation der Schaffenden zu berücksichtigen.
Das Erforschen von kompositorischen Abläufen in gruppenbezogenen Situationen wird dabei nahezu ausgeblendet: Im Zusammenhang damit verschiebt sich das Untersuchungsfeld auf Fragen der Interpretation sowie zu Formen des Jazz, wobei der Schaffensprozess in der Sonderform der Improvisation untersucht wird (Clarke & Doffman, 2017; Sawyer, 2003). Eine Beschreibung einzelner Elemente des gemeinsamen Komponierens wurde bisher mit Hilfe qualitativer Methoden noch nicht unternommen. Als Untersuchungsgegenstand bietet sich eine Vielzahl verschiedener Musiksettings an, in denen Musik gemeinsam von mehreren Individuen entwickelt wird. Dies ist insbesondere bei Musikgenres mit bestimmten soziokulturellen Hintergründen der Fall, die eher der Popularmusik zugeordnet sowie ohne kommerzielle Beweggründe und scheinbar demokratisch entwickelt werden. Verschiedene Richtungen des Rock bieten sich dafür zwar besonders an, denkbar wären aber auch verschiedene Ensemblekonstellationen in der sogenannten World Music.